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Rezepte fürs Überleben im Dauermodus der Veränderung

Was wir derzeit erleben und nach und nach mit den Gesellschaften weltweit teilen ist ein Changeprozess im Zeitraffer, ausgelöst durch die Pandemie. Überall dort, wo die wirtschaftliche Prosperität es erlaubt, sind ähnliche Phänomene zu beobachten: Am Umgang mit Nahrung und wie Menschen sich versorgen lässt sich seismografisch ablesen, in welcher Phase der Veränderungskurve wir uns gerade befinden – in Vorahnung, im Schock, im Widerstand, in Frustration, Trauer, Neugier oder Zuversicht.

Wobei manche Phasen mitunter so schnell verlaufen, als seien sie übersprungen worden. Corona zwingt uns, Dinge zu lernen, die wir nie lernen wollen. Wir erleben Seiten an uns selbst, von denen wir lieber nichts wissen wollten oder von denen wir gar nicht wussten, dass wir sie in uns haben. Die Rede ist vom Hamstern und vom Teilen.

Angst essen Seele auf ...

 

Am Anfang steht der Hamsterkauf. So viel lässt sich schon jetzt aus der noch kurzen Rückschau sagen. Sobald die ersten Coronafälle in einem Land bekannt werden und die jeweilige Regierung öffentlich über Maßnahmen zur Eindämmung nachdenkt, geht es los. Als erste Schreck- oder Panikreaktion wird gehortet, was das Haushaltsbudget hergibt. „Die Versorgung ist sicher!“ Die Appelle der politisch Verantwortlichen an die Vernunft bewirken genau das Gegenteil – wer hamstert, scheint in eine wütende Trotzphase zurückgefallen zu sein. Jetzt erst recht und vor allem an die eigene Vorratskammer zu denken, ist auch eine Reaktion auf das Gefühl des Ausgeliefertseins, das dieser weltumspannende Stresstest mit sich bringt. Wer weiß, was noch alles kommt! Die Vorstellungskraft kommt an ihre Grenzen. Das geht uns an die Nieren.

Als Grundproblem macht der Psychologe Stephan Grünewald die unsichtbare Bedrohung aus, die uns mit dem Coronavirus begegnet. „Das erzeugt ein Ohnmachtsgefühl bei den Menschen, das sie unbedingt überwinden wollen.“, erklärt der Gründer des rheingold Instituts im Handelsblatt. „Was wir im Moment im Konsum beobachten sind Versuche, aus der Ohnmacht herauszukommen und durch Hamsterkäufe Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Wer große Pakete aus dem Laden schleppt, zeigt, dass er etwas tut.“ 

Hefe macht autark

Laut Statistischem Bundesamt stiegen die Verkaufszahlen für ausgewählte Produkte in der Woche vom 16. bis 22. März 2020 wie schon in den drei Wochen zuvor auf ein extrem hohes Niveau. So war die Nachfrage nach Seife in der 12. Kalenderwoche mehr als vier Mal so hoch wie in den sechs Monaten zuvor (+337 %), während die Nachfrage nach Toilettenpapier mehr als drei Mal so hoch lag (+211 %). Spitzenreiter unter den Lebensmitteln sind nach wie vor Reis, Teigwaren, passierte Tomaten, Mehl, Zucker und Hefe. 

 

Wenn die Welt untergeht, dann also wenigstens nicht ohne vorher Pasta oder Hefebrot gegessen zu haben und sich sorgen zu müssen, sauber vom Klo zu kommen. Nicht nur in Deutschland ist das Toilettenpapier zum Symbol für Selbstbestimmung und Sicherheitgeworden. In Skandinavien, Großbritannien, Israel und den USA sind die Regale ebenso leergefegt wie bei uns. Unter den Hashtags #toilettenpapier, #toiletpaper und ähnlichen wird die Beute rund um den Globus zumindest virtuell geteilt. 

Kochen erdet

Aber nicht alle hamstern. Viele gehen auch, zumindest äußerlich, gelassen mit der Situation um und kaufen ein wie immer. Geduldig stellen sie sich in die Warteschlangen und bilden als mobile Glieder von zwei Meter Abstand neuartige Choreografien auf den Wochenmärkten. Und sie kochen, wie immer. Andere entdecken das kochen neu. Allein oder gemeinsam, plötzlich sitzen alle wieder öfter zusammen an einem Tisch. Und wenn das nicht geht, trifft man sich zum Skyperitivo, zum Aperitivo per Skype. Nützt ja nichts, dann lieber das Beste aus der Quarantäne machen. 

 

Der Gang zum Markt, zum Bäcker, in den Weinladen oder ganz allgemein der Wochenendeinkauf gehört in normalen Zeiten für viele Menschen zu den Ritualen des Alltags. Jetzt retten sie damit ein Stück Normalität in den Ausnahmezustand und in ihre Küche zuhause hinüber. In Italien geht sogar der Streit über die einzig wahre Penne, der zylindrisch geformten Pastasorte – glatt (lisce) oder mit Rillen (rigate) – weiter wie immer. Nur eben via Twitter.

So wird kochen, auch aus Hamstervorräten, zu einer Form der Krisenbewältigung auf kleinstem Raum. Wer an diesem Punkt angelangt ist, macht sich, bewusst oder unbewusst, bereit, den Veränderungsprozess auch emotional zu akzeptieren. Einen Pizzateig zu kneten kann helfen, sorgenvolle Gedanken mal auszuschalten. Das beruhigt den Geist. Ein gutes Essen stärkt die Resilienz, wenn wir den guten Moment als solchen wahrnehmen. Viele sorgen für Bedürftige mit, die sich gerade nicht mehr selbst versorgen können.

Wie der Mann, der in Neapel jeden Tag Körbe mit Lebensmitteln in die Straßen hängt oder der Lebensmittelhändler, der Obdachlosen am Kieler Bahnhof eine warme Suppe aus seiner Gulaschkanone austeilt. Gegenüber kann man Tüten mit Lebensmitteln ans Geländer der Hörnbrücke hängen. Von diesen guten Geschichten gibt es hunderte. Auch Erfolgsgeschichten helfen dem psychischen Wohlbefinden gegen die Angst. Darum ist es wichtig, sie zu erzählen.

Remote dining

Bei der Instagram-Initiative von MAD aus Dänemark, die zeitgleich mit dem Lock down des öffentlichen Lebens und damit auch der Restaurants in fast allen Ländern einsetzte, gehört Storytelling zur Überlebensstrategie. MAD ist das dänische Wort für Food/Essen und der Name der Kopenhagener Non-Profit-Organisation, die René Redzepi, Chefkoch und Mitbesitzer des berühmten Restaurants Noma, 2011 gegründet hat.

 

Das inzwischen weltumspannende Netzwerk von Köchen, Gastronomen, Servicekräften, Produzenten und Gästen hat sich nicht weniger als die Erhaltung der Gesundheit unseres Planeten zum Ziel gesetzt. Aber jetzt geht es erstmal darum, dass nach Corona möglichst viele der Restaurants wieder öffnen können. 

Die Kampagne „Resilient Restaurants“ ruft auf, sich gegenseitig mit kreativen Ideen zu stärken, die Gastronomen entwickeln, um die Auswirkungen der Krise zumindest abzumildern. Stories vom Gelingen kann jeder an den Instagramaccount themadfeed schicken. Ein Redaktionsteam hält die Community dort täglich auf dem Laufenden. Entsprechend erhält die Hospitality Support Map auf der Website madfeed.co von Tag zu Tag mehr Adressen für Gäste – von Inari bis Lagos, von Quebec bis Tokio. 

Über den Tellerrand: Food und Social Design

Die madfeed-Kampagne ist aber weit mehr als eine Solidaritätsbekundung und auch mehr als eine kulinarische Bewegung im klassischen Sinn. Sie ist Teil eines neuen Selbstverständnisses davon, was Food noch kann. Früher träumten Küchenchefs davon, für Regierungschefs zu kochen. Heute ist es für Menschen wie René Redzepi das Ziel, mit diesen zusammen zu arbeiten, so Kieran Morris vor kurzem im The Guardian Weekly in seinem Artikel „After Noma“.

 

Redzepi und seine Mitstreiter haben mit der Neuen nordischen Küche zunächst Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt inspiriert. Doch die Aktivitäten der MAD Academy bringen Menschen aus unterschiedlichsten Bereichen dazu, sich zu Social Gastronomy-Projekten zusammen zu tun.

In Kiel beweisen die Craftbeer-Brauer Max Kühl und Florian Scheske mit ihrer lille Brauereiwas sich bewirken lässt, wenn zur Veränderungskompetenz ethisch engagierter Köche, die sich auch auf Brauer übertragen lässt, noch Designkompetenzen dazu kommenIn ihrem Fall die eines Kommunikations- und eines Industriedesigner. „Als Designer wird man ja immer auf ein komplett fremdes Feld geschmissen.“, sagt Max Kühl am Telefon. „Wir sind es gewohnt, den Blick erstmal groß aufzumachen und dann das, was wir sehen, in verstehbare Inhalte zu übersetzen. Und wir sind es gewohnt, das Ganze dann schnell umzusetzen. Auch eine Krise ist etwas, womit man so umgehen kann.“ 

Diese vitale Mischung wirkt – und zwar für den Standort Kiel als lebenswerte, weil diverse und solidarische Stadt: Auf Initiative der lille Brauerei heben die Landeshauptstadt Kiel, Kiel Marketing, die Kieler Wirtschaftsförderung und opencampus das Portal „KIEL hilft KIEL“ aus der Taufe. 

Seit Ende März unterstützt es lokales Einkaufen und gemeinsames Handeln. lille selbst geht mit kreativen Aktionen voran. Gerade wurden die ersten 3000 Liter des Kieler Zwickel abgefüllt. Sie sind bereits vergriffen. Das Bier, extra gebraut für die Kieler Gastronomie, ist ein Solidaritätstrunk. Jedes Restaurant, jede Bar erhält eine eigene Flasche. Pro verkaufte Flasche geht die Hälfte in einen Gemeinschaftstopf, der unter allen teilnehmenden Gastronomen aufgeteilt wird. Hamstern kann man bei lille übrigens auch: Bis der Schankraum wieder geöffnet werden darf, wird jeder Samstag mit Drive-in-Werksverkauf zum Hamstag. 

Susanne Kollmann
ist Koordinatorin im Muthesius Transferpark und Diversitätsbeauftragte der Muthesius Kunsthochschule. In ihrer künstlerischen Arbeit wird  Essen zum Medium für gesellschaftsrelevante Fragen.

Illustration: Inga Sieberichs