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Solidarität in Zeiten der Krise

Krisen wie diese sind die große Zeit der Anrufung des Wir: wir müssen, wir sollten, wir können, wir dürfen nicht. Wer soll das sein, dieses Wir? Das Problem besteht nicht darin, dass es jemanden ausschließt – das tut jedes Wir –, sondern dass dieses Ausschließen oft verschleiert wird, dass man in seinen emphatischen Appellen oder Mahnungen so tut, als spräche man für schlechthin alle. Der Klassiker ist der, dass der oder die Schreibende sich selbst nur scheinbar einschließt: Wer moralisierend „Wir müssen uns ändern“ sagt, wähnt sich schon auf der richtigen Seite. Die Frage ist aber auch, ob klargemacht wird, dass man aus einer bestimmten Gruppe heraus spricht, mit ihren Voraussetzungen, ihrer Perspektive und ihren Möglichkeiten. „Wir alle“ ist in jedem Fall reine Ideologie. 

Von dieser öffentlichen Rhetorik des Wir einmal abgesehen fühlen wir (!) uns zu jeder Zeit einer ganzen Reihe von sehr verschiedenen Gruppen zugehörig. Wie prekär sie vielfach sind, zeigt sich vor allem dann, wenn jemand in ihrem Namen zu sprechen beginnt. Das beginnt bei der Familie, wo sich etwa Heranwachsende nicht angesprochen fühlen oder nicht mehr dazugehören wollen, geht weiter bei lokalen Gruppen wie der Nachbarschaft oder der eigenen Stadt, die offenbar in Italien deutlich gefestigter sind als hierzulande, über gesellschaftliche Schichten und Statusgruppen, bei denen Exklusivität in der Natur der Sache liegt, bis hin zur Bevölkerung eines Staates oder größerer Einheiten wie Europa. Am Ende dieser Reihe steht, vielleicht, die Menschheit. 

Auch wenn man immer schon einer Reihe von Wir-Gruppen angehört und in andere aufgenommen wird oder hineinwächst, ist man ihnen nicht ausgeliefert. Man kann sie mitgestalten und an ihnen bauen. Das allerdings beginnt nicht, indem man sich zu ihrem Sprecher erklärt, sondern damit, Verantwortung zu übernehmen. Kleine Projekte wie die, in denen Anwohner sich um Grünflächen im Stadtraum kümmern, sind dafür ein gutes Beispiel. Wenn sie funktionieren, können sie ein Gefühl von lokaler Gemeinschaft erzeugen und damit vielleicht eine veränderte Art, die eigene Stadt zu bewohnen. Die entscheidende Frage dürfte dabei sein, ob das politische Auswirkungen hat, indem es zu einem veränderten Anspruch auf Gehörtwerden und eine neue Bereitschaft zur Mitwirkung führt. Erweiterte Vorgärten sind hübsch, reichen dann aber doch nicht aus. 

Aber bereits hier können manche Weichen gestellt werden. Derartige lokale Projekte können einladend oder ausgrenzend wirken, als neue Form der Öffentlichkeit oder als bloße Selbstbestätigung eines bestimmten Milieus, und auf diese Weise sind sie exemplarisch. Sie beruhen allerdings darauf, dass man sich tatsächlich physisch begegnet, und gerade das ist in Zeiten von Corona unmöglich. Die Frage, wie man trotzdem, auf virtuellem Wege, Wir-Gemeinschaften herstellt und aufrechterhält, wird gerade ganz praktisch verhandelt. 

Wer dazugehört und wer ausgeschlossen wird, sich ausgeschlossen fühlt oder sich gar nicht berücksichtigt findet, ist auch hier die große Frage. Es ist gut zu sehen, dass für Obdachlose, Kulturschaffende, lokale Betriebe etc. gespendet wird. In was für einem Umfang das geschieht, kann man als Einzelner kaum sehen. Aber das Spenden allein schafft kein Wir, nicht einmal die tatkräftige Unterstützung. 

Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit.

Entscheidend ist ein Begriff, mit dem das große politische Wir-Projekt des 19. und 20. Jahrhunderts, die Arbeiterbewegung, seinen Zusammenhalt beschrieben hat: Solidarität. Solidarität ist kein Mitgefühl, und aus Solidarität Gegebenes ist weder Geschenk noch Almosen. Solidarität beruht auf Gegenseitigkeit, womit gerade nicht der direkte Austausch gemeint ist, sondern die grundsätzliche Austauschbarkeit der Positionen: Jeder könnte in die gleiche Situation geraten wie jeder andere, daher unterstützen sich alle gegenseitig und stärken so die Gemeinsamkeit – als Gleiche. Als solidarische Gleiche bilden sie eine Wir-Gruppe, die als politische Macht auftreten kann. 

Insofern fällt bei Weitem nicht alles, was als Solidarität bezeichnet wird, von Solidargemeinschaft bis zum „Soli“, tatsächlich in diese Kategorie. Eine wirkliche Solidaritätsgemeinschaft ist niemals einfach gegeben, sondern muss erkämpft und verteidigt werden. Ihre Legitimität bemisst sich daran, ob sie auch diejenigen einschließt, die nicht ohnehin dazugehören. Das kann und darf nicht damit beginnen, dass man für sie spricht – sie müssen selbst ihre Stimme hörbar machen können, und zwar als anerkannte Gleiche. Die Gleichheit der internationalen Arbeiterschaft war in ihrer gemeinsamen gesellschaftlichen Lage gegründet. Unsere Aufgabe heute ist eine andere, denn sie muss Menschen in sehr verschiedenen Situationen zusammenbringen und zwischen ihnen Solidarität stiften, also zumindest in dieser Hinsicht die offensichtlich Ungleichen zu Gleichen machen. 

Ein wichtiger Versuch, die gegenwärtige Hilfsbereitschaft auszuweiten auf alle, die ihrer bedürftig sind, die Krankenhäuser in Italien und im Elsass, die Frauenhäuser, die Obdachlosen und die auf Lesbos und anderswo in Flüchtlingslagern und furchtbaren Bedingungen Eingesperrten, firmiert unter #LeaveNoOneBehind. Ein neues Wir stiftet er vorerst nicht. Eher müssten wir sagen: Wir sind diejenigen, die diese Menschen einsperren. Das ist kein Wir, auf das man stolz sein kann. Es sollte ersetzt werden durch eines, das sie aufnimmt, und zwar in jeglicher Hinsicht, sodass auch sie für uns sprechen können. 

Es ist nicht abzusehen, wie sich die gesellschaftliche, politische und kulturelle Landschaft nach Corona verändert haben wird. Einiges hängt davon ab, ob sich diesseits staatlichen Handelns – das man fordern kann und zu beeinflussen versuchen muss – die Grundlage für möglichst viele Solidaritätsgemeinschaften unterschiedlichen Umfangs und Zuschnitts legen und aufrechterhalten lässt. Es wurde viel diskutiert, ob sich eine europäische Identität ausbilden kann. Vielleicht ist Identität aber auch der falsche Begriff. Eher geht es um eine europäische Solidarität, und zwar nach innen und außen. Das ist keine einfache Aufgabe, und es steht nicht in der Macht irgendwelcher Einzelner. Aber an welchem Wir wir auch immer arbeiten, die entscheidende Frage ist, wie wir erreichen können, dass auch die dazugehören, die hier und jetzt keine Stimme haben. 

 

Dr. Christian Grüny 
arbeitet am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik in Frankfurt am Main sowie als Privatdozent an der TU Darmstadt.

Illustration: Inga Sieberichs