Boy Boy

... anstatt euch neue aufstellen zu lassen.

Warum es nicht immer hilft, nur symbolhaft zu handeln – aber nie verkehrt ist, zur Problemlösung bei sich selbst anzufangen.

Eine Nachricht ließ dieser Tage besonders aufhorchen: „An der Bundesstraße 109 bei Rollwitz gibt es nun Grenzkontrollen. Durchfahrt gibt es nur für Arbeitnehmer und für Personen, die zum Arzt müssen. Einkaufen und Tanken im anderen Bundesland geht hingegen momentan nicht mehr.“ 

Das Besondere an dieser Notiz ist dabei das Wort „Bundesland“.Denn es handelt sich hierbei um die „Grenze“ zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg. Und die Polizei aus Mecklenburg-Vorpommern schickte die Brandenburger, die im Nachbarbundesland nur einkaufen oder tanken wollten, unverrichteter Dinge wieder nach Hause. Für sie war die Grenze geschlossen. Eine Grenze, von der keiner der Abgewiesenen bei Abfahrt zu Hause wusste, dass es sie überhaupt gibt. 

 

Es ist „Corona-Zeit“ und wir lernen gerade vieles neu. Dazu gehört auch, dass der erste Reflex in der Krisenbewältigung sich im Wesentlichen nicht von dem unterscheidet, wie es auch unsere Vorfahren im Neandertal getan hätten. Der Fremde bleibt draußen, denn man weiß nicht, ob er uns etwas Gutes tun will.  Sicher ist sicher. Über 30.000 Jahre Kulturgeschichte liegen nun hinter uns – aber unsere Grundreaktion ist mehr oder weniger gleich geblieben. Mauern hoch und die eigenen Reihen fest geschlossen. 

Wohlgemerkt im Kampf gegen einen für jeden Zöllner unsichtbaren Virus. Zudem einen, den man auch den meisten Menschen nicht ansehen kann, weil er so bösartig ist, sich auch noch zwei Wochen im Wirtsmenschen unbemerkt zu verstecken. Die Grenzkontrolle in Rollwitz wurde dennoch durchgeführt, weil wir uns einfach sicherer fühlen wollten. Ohne Anzeichen, dass die Brandenburger nun besonders anfällig für diesen Virus wären – oder zumindest anfälliger als die Landeskinder im Norden. 

In Schleswig-Holstein werden die Urlauber nicht mehr reingelassen, in Polen die Deutschen. In Ungarn gleich gar niemand. Europa feiert die Entdeckung des Schlagbaums zur erfolgreichen Virusbekämpfung. Als würde man dem bösen Virus mit diesem Schlagbaum, nur angsteinflößend genug hin und her geschwungen, schon die Leviten lesen könnte. Oder zumindest erreichen, dass er nicht so schnell ins belgische Eupen kommt und gefälligst in Aachen bleibt. Oder umgekehrt. 

 

Man schaut auf all das und reibt sich verwundert die Augen.

Hatten wir nicht gerade erst mühsam gelernt, dass in einer globalen Welt globale Probleme nur durch globale Zusammenarbeit gelöst werden können? #Klimakrise. Und jetzt vermehrt sich dieser Influenza-Abkömmling vor allem deshalb so rasend schnell, weil wir nicht genug Abstand halten und uns zu wenig die Hände waschen, und schon sind alle Schwüre der internationalen Solidarität dummes Geschwätz von gestern? Die Inder kaufen den Weltmarkt der Schutzmasken leer, die Amerikaner versuchen ein deutsches Biotechunternehmen über den Atlantik zu locken, um einen möglichen Wirkstoff erst einmal nur für sich zu haben, und auf Föhr wird der Hamburger Zweitwohnungsnachbar, den wir seit 20 Jahren kennen, auf einmal zur Persona non grata. Weil? Ja, weil er aus Hamburg kommt. Das muss als Grund reichen. 

Globalisierung versus Neandertal. Und wer gewinnt?

Der Kollege aus der Steinzeit hat die schlagenderen Argumente. Stammhirn schlägt Kleinhirn. Nur dummerweise nützt es nicht so viel. Jedenfalls nicht bei solch einem Problem. Die einzige Grenze, über die wir im Zusammenhang mit Corona wirklich nachdenken müssten, ist die, die uns offensichtlich im Wege steht bei der erfolgreichen Veränderung unserer eigenen Verhaltensweisen. Aber das scheint viel mühsamer zu sein als danach zu rufen, dass der Staat uns vor den bösen Fremden schützen möge. 

Aber die Wahrheit ist leider, dass es nicht ein böser Ausländer ist, der die armen Menschen in spanischen oder italienischen Krankenhäusern tötet, sondern katastrophale hygienische Zustände, die es dem Virus erlauben, sich seine Opfer zu suchen. Oder wann haben Sie zum letzten Mal gesehen, dass Ihr Supermarkt die Haltestangen der Einkaufswagen desinfiziert hat? Noch nie? Welcher böse Fremdling hat das Management daran gehindert? Nur dessen Geiz! Oder unsere Dummheit, weil wir es als Kunde wichtiger fanden, dass die Milch 39 Cent billiger war, als dass jeder Kunde ein paar Einweghandschuhe am Eingang vorgefunden hätte. 

Und glauben wir wirklich, dass es im Wesentlichen Fremde waren, die in unseren Pflegeheimen jetzt die alten Menschen infiziert haben? Nein, ganz oft waren wir es selber, weil es so schön war, unsere alten Familienangehörigen nach unserem Skiurlaub in Ischgl dort zum Kaffee zu treffen, und wir doch nicht wollten, dass die Enkelkinder ihnen keinen Kuss geben dürfen. Was soll so ein Kuss schon anrichten? 

 

Grenzüberschreitend abgestimmte einheitliche und von uns ernst genommene Hilfestellungen,  „Wie verhalte ich mich in Zeiten einer Pandemie?“– wären unendlich viel wirksamer als das Fahrverbot für Kleinlastwagen zwischen Belgien und Deutschland. (Dieses Wissen wäre übrigens jedes Jahr wieder hilfreich anwendbar – haben wir doch im Grippewinter 2017/2018 allein in Deutschland über 25.000 Tote mit Influenza-Symptomen gehabt. Und auch wenn das damals interessanterweise keine Hysterie ausgelöst hat, waren die Ursachen im Wesentlichen dieselben: unser persönliches falsches Verhalten!)

Es ist sehr gut nachvollziehbar, dass wir gerade bei nicht greifbaren globalen Problemen eine große Sehnsucht nach symbolhafter Heilung oder zumindest nach entsprechenden Rettungsversuchen durch die dazu berufenen staatlichen Ebenen haben. Vor allem solchen, die uns von unserer eigenen Verantwortung erlösen, indem wir diese Verantwortung irgendwo anders verorten lassen. 

Aber wenn wir das nächste Mal ein historisches Werk über die Zeiten der Pest im Europa des 14. Jahrhunderts lesen, rümpfen wir bitte nicht allzu sehr unsere zivilisatorische Nase über die damals aufflammenden Pogrome gegen die scheinbaren Verursacher. Ein amerikanischer Präsident, der den Virus zu einem chinesischen stilisiert, verhält sich im Kern genauso wie seine Vorgänger vor bald 700 Jahren. 

Vielleicht ist die Zeit, die wir nun mit diesem neuen Virus verbringen müssen, eine gute Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie wir uns in künftigen Begegnungen mit dem Unbekannten verhalten sollten? Welche Grenze wir ziehen müssen und welchen Grenzbaum wir einreißen sollten? Warum wir uns nicht vormachen lassen sollten, dass Symbolhandlungen allein etwas verändern? Und wie wir unsere eigene Begrenztheit künftig besser beseitigen können und wir uns unserer eigenen Verantwortung stellen? Nicht neue Grenzbäume helfen uns, sondern nur das Überwinden der Grenzen in unserem Kopf. 

Wenn uns das gelingt, dann waren die Corona-Monate am Ende doch für etwas gut. Auch wenn wir sie mit Kernseife und Abstandhalten von ganz allein hätten bekämpfen können. Aber wie gesagt, auch das könnte man sich ja grenzenlos merken!

Drastische Maßnahmen sind nicht unbedingt wirksame Maßnahmen. Wirksamkeit wird heute in komplexen Situationen oft eher durch die Bevollmächtigung und Inverantwortungsnahme der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erreicht.

 

Torsten Albig 
Ministerpräsident und Oberbürgermeister a.D seit 2018 in Brüssel für die DHL tätig, hat über viele Jahre umfangreiche Erfahrung in Krisenkommunikation gesammelt. Er sucht professionell nach der Lektion der Geschichte für die Zukunft. Auch in dieser historischen Zeit.

Illustration: Inga Sieberichs