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Ein Plädoyer für moderne Führung, die viel mehr verlangt als nur nach ihr zu rufen. 

Organisationen, deren Mitglieder nur geführt werden wollen, werden in Zeiten komplexer Krisen zu den Verlierern gehören. Wenn ein Ruf in der gegenwärtigen „Corona-Krise“ weltweit zu hören ist, dann ist es der nach „starker Führung“. „Staat führe uns aus dieser Krise wieder heraus“, so schallt es uns gerade aus jeder Ecke der Corona-geplagten Welt entgegen. 

 

Die weltweit teilweise sehr rigiden und unsere bürgerlichen Freiheiten massiv einschneidenden staatlichen Entscheidungen treffen interessanterweise auf große Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger im Osten wie im Westen. Man fühlt sich erinnert an die Botschaft eines Gebetsverses aus dem frühen 19. Jahrhundert: „Herr, wir legen unser Schicksal kindlich in Deine Hände, denn nur Du kannst uns bewahren.“

Es sieht so aus, als ob dieser Virus, der da gerade über uns kommt, nicht nur unsere Lungen angreift, sondern auch unsere Bereitschaft, für uns selber Verantwortung zu übernehmen. Im Kleinen wie im Großen. Wir wussten, dass in Ischgl der Virus umgeht, aber es brauchte die nächste Instanz, um die simplen Schlussfolgerungen zu ziehen oder besser zu befehlen – leider als es schon zu spät war. Wir wissen, dass „Distanz“ das Gebot der Stunde ist – aber dennoch sitzen am letzten Wochenende in Berliner Parks in der herrlichen Frühlingssonne die Menschen in Scharen eng bei eng und freuen sich sichtbar, noch nicht erwischt worden zu sein. Und das 250 Jahre nach Kant. Die Aufklärung hat bei uns offensichtlich noch Entwicklungspotenzial

Und die Debatte um eine neue Führungskultur, die sich erfolgreich auf dem Weg von autoritärer hin zu immer stärker agiler, selbstbestimmter Führung sah, muss lernen, dass wir uns offensichtlich etwas vorgemacht haben. Es braucht nicht viel, um die Sehnsucht zu wecken, lieber Teil der Herde als sein eigener Hirte zu sein. Die virologische Debatte um die möglichst schnelle Erreichung der Herdenimmunität passt gut dazu. 

 

Die aktuelle Situation wird viel verändern.

Wenig würde aber so einschneidend sein wie eine neue Grenzziehung zwischen bürgerlicher Freiheit und staatlicher Bevormundung. Alle, die glaubten, dass wir im Westen erfolgreich an dem Gegenmodell eines liberalen Bürgerstaates arbeiten, mit dem wir in den globalen Wettbewerb gegen östliche autoritäre Herrschaftssysteme treten können, müssen sich verwundert die Augen reiben. Die Antworten aus Singapur oder Wuhan werden auch bei uns fast kritiklos zur Blaupause für den erfolgreichen Weg raus aus der Krise stilisiert. Und wenn es bei dieser Krise so schön klappte, warum sollten wir es nicht einfach beibehalten für das, was da noch so an Krisen auf uns lauert. 

Und das geschieht nicht, weil böse ordnungsstaatliche Verschwörung die Gunst der Stunde (mit Ausnahme von Ungarn vielleicht) ausnutzt – nein, es geschieht, weil wir als Gesellschaft – oder jedenfalls ein großer Teil von uns – laut danach rufen.

„Herr, wir legen unser Schicksal kindlich in Deine Hände.“ 

Wir begeben uns unserer eigenen Verantwortung für uns selbst.

 

Dabei wäre gerade die Herausforderung dieser Tage wie wenige geeignet zu zeigen, dass wir verstanden haben, dass Freiheit immer nur zusammen mit Verantwortung zu haben ist. Es ist kein Nutzen von Freiheit, die Sonnenstrahlen im Park am Gleisdreieck in Berlin zusammen mit vielen anderen erhaschen zu wollen. Es ist Ausdruck der Missachtung der der Freiheit innewohnenden Verantwortung für einen selbst und die Menschen um sich herum. 

Es bedarf keiner großen intellektuellen Anstrengung oder staatsmännischer Führungskunst, um zu begreifen, was jetzt von mir als Bürgerin oder Bürger verlangt wird – ohne, dass es in Verordnungsblättern stehen müsste: Abstand halten, Menschenansammlungen meiden und Hände waschen. Würden wir das alles von uns aus tun, könnten wir uns weiterhin in jedem Supermarkt, Bekleidungsgeschäft und Restaurant aufhalten. Ja, wenn wir verlässlich darauf achten und es selber einfordern würden als Unternehmen, dass wir bis auf Weiteres nur ein Drittel der vorhandenen Plätze verkaufen, könnten wir (jeweils etwas weniger von uns, aber immerhin) weiter Zug fahren oder das Flugzeug nutzen. Kein kleiner Buchladen müsste Angst haben, in der Krise an einem Liquiditätsengpass zugrunde zu gehen, wenn ich einfach vor dem Laden warte, wenn schon drei Kunden vor mir drin sind. Unser Leben könnte im Wesentlichen so weiterlaufen wie bisher, wenn wir das Offensichtliche zur Richtschnur unseres Verhaltens machen würden. 

Aus Respekt vor unseren Mitmenschen Abstand halten.

 

Und zwar immer. Aber ganz offensichtlich zweifelt nicht nur der Staat, sondern wir als Gesellschaft selber massiv an unserer Fähigkeit, uns dieser Aufgabe eigenverantwortlich zu stellen, und so starren wir mit großen Kinderaugen auf die Führerinnen und Führer dieser Welt. Als ob der Virus ein Alien wie in „Independence Day“ wäre, den es unter Führung eines charismatischen Präsidenten zu besiegen gilt. Dabei gilt in Umdeutung des alten Spruches von dem Stau, der man selber ist, dass das Virus nicht in erster Linie durch charismatische Präsidenten vertrieben wird, sondern vor allem durch verantwortliches und diszipliniertes Handeln durch einen jeden von uns selbst. Zumal wir gerade eh einen Mangel an diesem Typus von Präsidenten haben. 

Es wäre die große Zeit, um zu zeigen, dass in uns der Hirte schlummert – aber alles, was passiert, ist, dass die Herde mürrisch mit den Hufen scharrt und nur tut, was ihr befohlen wird. Und sie fühlt sich auch noch gut dabei. Hatten wir gestern noch Mut machende Diskussionen mit den Jugendlichen in unseren Familien über unsere gemeinsame Verantwortung bei der Rettung des Planeten, zeigt heute die erregte Debatte über das polizeiliche Verbot, sich im Park zum abendlichen Chillen mit seinen Freunden zu treffen, dass Verantwortung im konkreten Kleinen manchmal schwerer zu übernehmen ist, als sie im großen Abstrakten einzufordern. 

Was lehrt uns das für die Zeit danach – und ja – so oder so wird es eine Zeit danach geben.Wären wir Hirten, käme sie schneller, als wenn wir auf der Weide stehen blieben und geduldig unser Herdengras kauten und auf bessere Hirten warteten. 

Ist die Lehre, dass wir zurückmüssen – auch in unseren Unternehmen – zu alten autoritären Führungsidealen? Nein, im Gegenteil! Wir erleben gerade, dass wir noch viel mehr Energie darauf verwenden müssen, gemeinsam zu lernen, wie viel besser wir und unsere jeweiligen Organisationen sein könnten, wenn wir nur bereit wären, Verantwortung für uns und unsere Welt zu übernehmen. Völlig egal, ob es sich dabei um die Weltgesellschaft oder unseren 10-Mann-Betrieb oder unsere eigene Familie handelt.

 

Eine Gesellschaft, die Verantwortung nicht nur oben verordnet, sondern bei sich anfängt, Verantwortung zu leben, könnte schneller reagieren auf neue Krisen. Sie könnte erfolgreichere Antworten finden und wäre weniger aufgeregt, wenn die nächste Krise – völlig egal in welcher Gestalt – um die Ecke kommt. Tun wir es nicht, werden wir angesichts der kommenden komplexen globalen Krisen zu den Verlierern gehören. Das war mit agiler Führung gemeint. Nicht ein Modephänomen der Beraterzunft, sondern ein Instrument, unser gesamtes Potenzial besser zu nutzen. Beschränken wir uns auf die Kompetenz der wenigen da oben, wird es für den Erfolg nicht reichen. 

Unsere Lehre aus Corona muss deshalb sein: Lasst uns endlich das Zeitalter der Hirten einläuten. Herde waren wir lang genug.

 

Kommunikation in dieser Zeit muss Rollen jenseits des Schafes anbieten – das reduziert die Führungslast. Beispielsweise die Ermächtigung der Kolleginnen und Kollegen zu kollegialer Führung hilft hier weit nach vorne.

Torsten Albig 
Ministerpräsident und Oberbürgermeister a.D seit 2018 in Brüssel für die DHL tätig, hat über viele Jahre umfangreiche Erfahrung in Krisenkommunikation gesammelt. Er sucht professionell nach der Lektion der Geschichte für die Zukunft. Auch in dieser historischen Zeit.

Illustration: Eva Hartmann